„Wir haben verlernt zu fühlen“
Lee, du hast dich vor rund drei Jahren im jungen Alter von nur 22 Jahren selbstständig gemacht mit deinem „Berührungspunkt“. Was hat dich selbst so berührt, diesen Weg mutig zu beschreiten?
Meine eigene Reise ist der Schlüssel dazu. Schon als junges Mädchen habe ich erlebt, wie es ist, nach belastenden Erfahrungen den Kontakt zu sich selbst zu verlieren, ich fühlte mich innerlich abgeschnitten und wie betäubt. Ich habe alles versucht, um wieder „normal“ zu werden. Ich habe nachgedacht, analysiert, mich immer mehr kontrolliert und trotzdem hat sich für mich nichts verändert. Damals konnte ich die Signale meines Körpers noch nicht deuten. Heute weiß ich, dass mit mir nichts falsch war. Mein Körper hat mir nur gezeigt, was ich selbst lange nicht sehen und fühlen konnte.
So habe ich verstanden, dass Körper und Psyche untrennbar miteinander verbunden sind und sich gegenseitig beeinflussen. Aus dieser persönlichen Erfahrung und meinem heute wissenschaftlich fundierten Wissen ist schließlich der „Berührungspunkt“ entstanden.
Welche Erfahrung war auf deinem eigenen Weg heilsam?
Ich habe selbst eine Cranio (Anm. der Redaktion: Abkürzung für Craniosacrale Therapie) bekommen. Eine Bekannte befand sich in der Ausbildung und wollte an mir üben. Ich war zunächst sehr skeptisch, weil ich bis dahin immer dachte, dass nur Gesprächstherapien etwas in unserer Psyche bewegen können. Doch diese erste Erfahrung hat etwas verändert. Ganz ehrlich: Ich fühlte mich wie auf Drogen, obwohl ich noch nie Drogen genommen habe (lacht). Etwas in mir wurde weich, ich fühlte mich zum ersten Mal sicher in meinem eigenen Körper – das war der Anfang. Dann kam Holistic Fascial Bodywork® in mein Leben. Damit konnte ich wieder Zugang zu meinen Gefühlen finden und begreifen, dass jede Emotion ihren Ausdruck im Körper hat. Beide Methoden haben mich und mein Leben um 180 Grad gedreht.
Was bewirken diese Methoden?
Unser Körper trägt Erinnerungen, die unserem Verstand oft nicht mehr zugänglich sind. Durch Präsenz und achtsame Berührung kann er beginnen, zu zeigen und zu verarbeiten, was lange gehalten wurde – mit tiefgreifender Wirkung. Diese Erfahrung hat mich dazu bewegt, Menschen auf ähnliche Weise zu begleiten. Daher habe ich mich, auf Basis meiner vorherigen Ausbildungen, in Craniosacraler Traumatherapie und Holistic Fascial Bodywork® weitergebildet.
Craniosacrale Traumatherapie. Haben viele Menschen Traumata?
Ich denke, wir alle tragen Traumata in uns, aber die wenigsten sind sich dessen bewusst. Viele Menschen spüren heute kaum noch wirklich, was in ihnen vorgeht. Die Spuren, die ein Trauma im Nervensystem hinterlässt, beeinflussen viele Prozesse, wie etwa Hormonhaushalt, Verdauung, Atmung, Immunsystem, Schlaf, Blutdruck und Muskelspannung. Wenn der Körper dauerhaft in Alarmbereitschaft bleibt, kann er nicht mehr richtig zur Ruhe kommen und regenerieren. Oft zeigen sich dann Beschwerden, für die keine medizinische Ursache gefunden wird. Diese sind ein Zeichen dafür, dass der Körper beginnt zu sprechen, wenn wir selbst verlernt haben zu fühlen.
Heißt das, dass unsere Körperhaltung von Prägungen und Emotionen beeinflusst wird?
Ja, der Körper erinnert sich, physiologisch. Emotionen sind keine Gedanken, sondern körperliche Zustände, die unseren Muskeltonus beeinflussen. Wird ein Impuls , wie etwa „Nein“ sagen, unterdrückt, muss der Körper ihn aktiv zurückhalten. Dieses Zurückhalten kostet Kraft, wir fühlen uns dann erschöpft vom scheinbaren „Nichts-Tun“. Mit der Zeit wird daraus deine Körperhaltung, Spannung und manchmal auch Schmerz. So formt sich der Körper aus dem, was wir fühlen, glauben und vermeiden. Jede Haltung erzählt eine Geschichte von Anpassung, Schutz oder Sehnsucht.
Gibt es Bereiche im Körper, die bestimmte Themen festhalten?
Ja, jeder Bereich steht in Verbindung mit bestimmten Bewegungen und Emotionen. Wenn wir etwas sagen wollten, aber geschwiegen haben, zeigt sich das z. B. oft im Hals oder Kiefer – der Körper hält die Reaktion, die damals nicht stattfinden durfte. Oft zeigt sich in diesem Zusammenhang in einer Behandlung tatsächlich etwas ganz Anderes als das, was der Verstand vorher erwartet hätte.
„Cranium“ bedeutet Schädel und „Sacrum“ Kreuzbein : Bei der Craniosacralen Therapie können Blockaden ertastet werden, die den kreislaufartigen Fluss der Hirnflüssigkeit vom Gehirn über Wirbelsäule und Kreuzbein normalisieren.
Wie kann man sich deine Arbeit vorstellen, kannst du das genauer beschreiben?
In meiner Arbeit verbinde ich zwei körperorientierte Ansätze: Die Craniosacrale Arbeit wirkt regulierend auf das Nervensystem – durch sanfte Berührung von den Füßen bis zum Kopf können meine Klienten wieder zurück in ihren Körper kommen. Bei Holistic Fascial Bodywork® gehen wir dann einen Schritt weiter. Durch gezielte Berührung im Gewebe, bestimmte Fragen und mit achtsamer Präsenz können sich Emotionen oder Erinnerungen zeigen, die das Gewebe gehalten hat. Beides greift ineinander: Erst wenn sich der Körper sicher fühlt, kann er loslassen. Und erst dann kann sich wirklich etwas verändern.
Durch gezielte Berührungen können Emotionen und Erfahrungen an die Oberfläche kommen, die tief im Gewebe festsitzen.
Du gehst mit deinen Berührungen wahrlich so tief, dass vieles ausbrechen kann bei deinem Gegenüber. Bietest du einen Safe Space?
Ja, absolut. Mir ist wichtig, einen Raum zu schaffen, in dem alles Platz hat, jedes Gefühl, jede Wahrnehmung. Wenn sich Spannungen lösen, dann kann es zu vielen Reaktionen kommen. Manchmal zeigt sich das leise und sanft, manchmal wird es laut und wild. Ich biete dafür einen absolut sicheren Ort, an dem sich jede Frau in ihrem ganz eigenen Tempo öffnen kann.
Ist deine Arbeit gar eine Berufung für dich?
Ich würde sagen ja (lächelt). Diese Arbeit ist für mich viel mehr als ein Beruf – sie ist ein Teil von mir und meiner eigenen Geschichte. Sie hat mich gelehrt, zuzuhören, wahrzunehmen und Menschen dort zu begegnen, wo Worte nicht mehr reichen. Umso mehr habe ich mich gefreut, als Anne Mohr-Bartsch, die Begründerin der Craniosacralen Traumatherapie, mich gefragt hat, ob ich die Ausbildung übernehmen möchte. Jetzt darf ich das weitergeben, was mich selbst so verändert hat.
Ein schöner Weg liegt da vor dir. Jetzt nochmal zum besseren Verständnis: Wie kann sich das Leben verändern, wenn man wieder in Kontakt mit dem eigenen Körper kommt?
Durch die Arbeit mit dem Körper kommen Emotionen und Erfahrungen an die Oberfläche, die tief im Gewebe festgehalten werden. So werden Blockaden auf eine Weise gelöst, die weitaus nachhaltiger ist als herkömmliche Massagen oder Techniken. Es ist dann möglich, auf allen Ebenen loszulassen. Die Folge ist emotionale Sicherheit. Man lernt, sich in seinen Gefühlen sicher zu fühlen, ohne sie unterdrücken zu müssen.
Unsere Körperhaltung verrät so viel mehr als uns bewusst ist. Genau das schaut sich Lee vor einer Holistic Fascial Bodywork® Session an.
Zusammenfassend bist der Überzeugung, dass eine Behandlung am Körper mehr Nutzen bringt als eine Gesprächstherapie?
Auch die Gesprächstherapie hat ihren Platz und ihre Berechtigung. Aber es gibt Momente, in denen Worte nicht mehr ausreichen. Ich kenne das aus meiner eigenen Erfahrung und auch viele meiner Klientinnen beschreiben es so. Dann braucht es den Körper, um wieder Zugang zu dem zu finden, was darunter liegt. Zu dem, was uns vielleicht gar nicht bewusst ist. Und genau dort setzt meine Arbeit an. Ich arbeite eben nicht damit, was der Verstand schon hundert Mal analysiert hat, sondern mit dem, wo der Körper eine Reaktion zeigt – dort, wo sich die Atmung verändert, der Puls schneller wird oder die Kehle sich zuschnürt. Diese körperlichen Reaktionen sind Antworten des Unbewussten.
Du hast oben davon gesprochen, wie betäubt zu sein, nichts zu fühlen. Was steckt dahinter?
Nichts fühlen heißt nicht, dass da nichts ist, im Gegenteil. Wenn etwas zu viel, überwältigend oder unaushaltbar ist, entscheidet sich unser System, uns zu schützen. „Bevor wir DAS fühlen, fühlen wir lieber nichts.“ Kurzzeitig kann das überlebenswichtig sein, aber wenn das zum Dauerzustand wird, verlieren wir uns dadurch selbst.
Wir haben jetzt immer von Frauen gesprochen, behandelst du ausschließlich Frauen?
Die große Mehrheit meiner Klienten sind Frauen. Wenn es passt, arbeite ich aber auch mit Männern.
Wie findest du einen Ausgleich nach Feierabend?
Ich bin von Kindesbeinen an mit dem Gardetanzsport verbunden. Neben der Arbeit in meiner eigenen Praxis bin ich Trainerin beim Coburger Mohr. Ich liebe es, meine Freude am Tanzen an die Kinder weiterzugeben.
In ihrer Praxis „Berührungspunkt“ in Spittelstein (Rödental) fühlt sich Lee rundum wohl – und freut sich auf viele Frauen, die sich vertrauensvoll in ihre Hände begeben.
Was würdest du sagen, wie mutig warst du, dich in jungen Jahren selbstständig zu machen?
Ich habe mich dabei ehrlich gesagt nie besonders mutig gefühlt. Es war eher ein Vorantasten. Ein Gehen, ohne genau zu wissen, wohin. Ich war unsicher und musste in vieles erst hineinwachsen, aber ich bin trotzdem weitergegangen. Vielleicht ist das der wahre Mut: nicht zu wissen wie, und trotzdem zu gehen. Ob ich das ohne die Unterstützung meiner Familie und Freunde geschafft hätte, weiß ich nicht – ich glaube, das ist das Wertvollste, was man auf diesem Weg haben kann.
Warmes Ambiente: Ihre Praxis hat Lee liebevoll eingerichtet, damit ein Ankommen und Loslassen leicht fallen kann.
Fotos: Simone Hopf @sinchen_businessfotografie @sinchen_fotografie
Weitere Infos zu Lee und ihrer Arbeit findest du hier: www.mein-berührungspunkt.de
@beruehrungspunkt_
schoen.frau-Steckbrief
Lee Liebscher
Geburtstag: 13.01.2000
Geburtsort: Coburg
Wohnort: Rödental
Gründung des eigenen Unternehmens: 2022
Ausbildung/Beruf: Traumafachberatung, Soul Touch Therapy, Craniosacrale Traumatherapie, Holistic Fascial Bodywork®
Was macht dich glücklich? Umarmungen, Zeit mit Freunden und Familie, Tanzen
Das Interview führte Christina, die sehr beeindruckt ist von Lees Mut, sich bereits in jungen Jahren selbstständig gemacht zu haben. Christina hat sich für eine Cranio selbst mal auf die Liege von Lee gelegt – und ist wohlig entspannt wieder aufgestanden.
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