„Liebe kennt keine Grenzen“

Vielfalt leben ist für Anne Reß mehr als ein Lebensmotto. Die zweifache Mutter hat in Bad Rodach vor drei Jahren ihre eigene Praxis für Paar-, Sexual- und Erziehungsberatung eröffnet. In ihrem gemütlichen Beratungsraum direkt am Bad Rodacher Marktplatz bietet sie Unterstützung bei partnerschaftlichen Problemen, Herausforderungen rund um das Thema Sexualität sowie bei Fragen zur Erziehung und Entwicklung von Kindern an. Anne lebt eine offene, polyamore Beziehungsform.

Anne, geht Deine Generation, Du bist 33 Jahre alt, entspannter mit dem Thema Sexualität und Vielfalt in Beziehungen um als noch eine Generation zuvor?

Alleine schon durch die Nutzung von Social Media sind wir es als jüngere Generation gewohnt, dass Menschen ihr Leben online öffnen. Damit bin ich vielleicht eine gewisse Offenherzigkeit gewohnt. Viele Kanäle bieten auch Aufklärungsarbeit an: Wie stärke ich meine Body-Positivity, oder welche Möglichkeiten gibt es, wenn Du nicht mit der hormonellen Verhütung klarkommst. Du bist nicht mehr alleine mit deinen Problemen. Früher musstest Du dich an eine Fachstelle oder an eine Freundin wenden. Jetzt kannst Du etwas in eine Gruppe schreiben und bekommst Antworten, die Du vergleichen kannst. Wir haben einfach mehr Austauschmöglichkeiten auch außerhalb unserer näheren Umgebung. Nehmen wir das Thema „offene Ehe“, da merkst Du plötzlich, es gibt Menschen, die genauso empfinden.

Freiheit in der Liebe ist für Anne ganz wichtig, um sich als Mutter und Frau rundum wohl zu fühlen.

Du lebst selbst in einer offenen, polyamoren Beziehung. Was bedeutet das für dich und inwieweit hilft dir das bei deiner Arbeit?

Ich kann nachvollziehen, dass alternative Beziehungskonzepte nicht immer von der Gesellschaft akzeptiert werden. Ich biete Hilfesuchenden mit meinen Angeboten einen sicheren Raum, in dem sie sich frei entfalten und über ihre Sexualität und Beziehung(en) offen reden können. Da ich selbst auch eine offene, polyamore Beziehung lebe, kann ich alle positiven Emotionen, aber auch Sorgen und Bedenken nachempfinden und ihre Bedürfnisse und Ängste ernst nehmen. Noch kurz zur Einordnung, da der Begriff noch wenig bekannt ist: Polyamorie beschreibt die Fähigkeit und Bereitschaft, mehrere Menschen gleichzeitig zu lieben und – wenn gewünscht – mit ihnen Beziehungen zu führen. Im Unterschied zur Monogamie sind dabei mehrere Liebesbeziehungen parallel möglich und offen gelebt.

Aus dieser Erfahrung resultierend hast du deine Beratungsvielfalt gegründet?

Ja, es kristallisierte sich vor einigen Jahren immer mehr heraus, dass ich mich beruflich verändern wollte. Ich steckte in einer kleinen Sinnkrise und konnte mich dankenswerterweise gemeinsam mit meinem Mann darüber austauschen. Wir haben dabei festgestellt, dass oft Freund:innen zu mir kamen, um mit mir über Dinge zu sprechen, über die sie mit keinem anderen reden konnten. So entstand dann die Idee zur Erwachsenenbildung. Da wir selbst aufgrund unserer offenen Ehe viele Glaubenssätze ablegen und lernen mussten, neu und offen zu kommunizieren, entschied ich mich zur Ausbildung als Paartherapeutin. Und da diese meist mit der Sexualtherapie verknüpft ist, schloss ich diese direkt mit an.

Zitat

„Ich sehe mich gerne als Impulsgeberin“

Wie war denn dein ursprünglicher beruflicher Weg?

Nach meinem Schulabschluss wusste ich zunächst nicht, was ich machen möchte und bin zum Glück durch ein soziales Jahr in einer Kinderkrippe gelandet. Hier habe ich mich sofort unglaublich wohl, gesehen und gebraucht gefühlt. Danach begann ich meine Ausbildung zur Erzieherin und habe viele Jahre in einer sehr offenen und kreativen Kita gearbeitet. Mit 19 Jahren habe ich bereits geheiratet und bin anschließend nach der Hochzeitsreise mit meinem Mann nochmal alleine für ein paar Monate nach Neuseeland gereist. Ich habe schon immer dieses Gefühl von Freiheit und Eigenständigkeit für mich gebraucht. Zurück von dieser Erfahrung habe ich hier daheim bald mein erstes Kind bekommen dürfen. Und während der Corona-Krise mein zweites (lächelt, schaut dann aber nachdenklicher). Dann sollte sich etwas ändern in meinem Leben. Ich erlitt eine langwierige Wochenbettdepression und zusehends drängte sich die Frage in mir auf: Wer bin ich eigentlich?

Hast du dir eine Antwort geben können?

Erstmal habe ich mir Zeit gegeben nachzudenken. Eine Mutterschaft verändert dich. Sie gibt dir so viele neue Rollen, und in diese musste ich mich einfinden. Wer bin ich als Mutter, und wer bin ich als Frau? Meine Elternzeit habe ich dann schließlich genutzt, um mich als Erziehungs- und Entwicklungsberaterin weiterzubilden. Du siehst, ich halte Stillstand schlecht aus und bin immer auf der Suche nach neuen Herausforderungen und Entwicklungsmöglichkeiten.

Welcher Ansatz steht heute bei Deiner Arbeit im Vordergrund?

Ich lege in meinen Beratungen als Paar- und Sexualtherapeutin einen Schwerpunkt auf eine bedürfnis- und ressourcenorientierte Lösungsfindung. Ich sehe mich gerne als Impulsgeberin und biete Raum für Gespräche und Reflektion. Eine Paartherapie funktioniert nicht wie eine schnelle Heilung, sondern sie ist intensiv und sollte über einen längeren Zeitraum geführt werden.

Anne bietet Gespräche persönlich in ihrem Beratungsraum in Bad Rodach an – auf Wunsch gerne aber auch online.

Welcher Ansatz steht heute bei Deiner Arbeit im Vordergrund?

Ich lege in meinen Beratungen als Paar- und Sexualtherapeutin einen Schwerpunkt auf eine bedürfnis- und ressourcenorientierte Lösungsfindung. Ich sehe mich gerne als Impulsgeberin und biete Raum für Gespräche und Reflektion. Eine Paartherapie funktioniert nicht wie eine schnelle Heilung, sondern sie ist intensiv und sollte über einen längeren Zeitraum geführt werden.

Die Sexualität spielt dabei immer eine Rolle?

Jein. Es gibt natürlich viele Konflikte, bei denen sie zunächst keine Rolle spielt. Wenn zum Beispiel viele Vorwürfe gemacht werden oder die Streitdynamik dysfunktional ist. Aber oft leidet die Sexualität darunter. Deshalb war es mir auch wichtig, in beiden Bereichen fachlich beraten zu können. Es kommen viele Paare ganz bewusst aufgrund von sexueller Lustlosigkeit in ihrer Beziehung zu mir. Hier schauen wir vor allem auf das Warum. Oft steckt dahinter so etwas wie Überforderung und Erschöpfung im Alltag oder auch Kommunikationsschwierigkeiten über Vorlieben und Wünsche. Im sexualtherapeutischen Kontext berate ich auch Einzelpersonen ganz individuell zu verschiedenen Dysfunktionen und den damit verbundenen Herausforderungen.

Zurück zur Polyamorie: Ist denn unsere Gesellschaft schon so weit, sie zu tolerieren?

Ich finde schon, dass sich in Bezug auf Beziehungen ein Wandel vollzogen hat. Alternative Beziehungsmodelle tauchen viel öfter in unserer Wahrnehmung auf. Und die Möglichkeit, sich überhaupt für oder gegen ein monogames Leben zu entscheiden, ist präsenter. Gleichzeitig ist es immer noch nicht leicht, von der „Norm“ abzuweichen. Gerade polyamore Paare stoßen immer wieder auf Vorurteile, sie würden Liebe oder Beziehung nicht „vernünftig“ leben. Ich glaube, wir befinden uns in einem Übergangstadium. Polyamorie wird immer mehr als legitime Lebensform wahrgenommen, aber für viele Menschen ist sie noch neu, ungewöhnlich oder sogar beängstigend. Aber, und das ist das Schöne daran: Liebe kennt keine Grenzen!

Anne, magst du einen Einblick in deine eigene Ehe geben?

Ich habe lange und glücklich mit meinem Mann monogam gelebt. Irgendwann wollten wir – im gegenseitigen Einverständnis – unsere Beziehung öffnen. Schon von Anfang an diskutierten wir über die Möglichkeit, sich auch zu verlieben. Uns war immer wieder wichtig, offen und ehrlich mit allen Gefühlen, ob positiv oder negativ, umzugehen. Dies hat uns wirklich geholfen, je nach Situation für uns schöne und geeignete Lösungen zu finden. Ich glaube, das ist auch extrem wichtig zu verstehen: Jede offene, polyamore Beziehung ist ganz individuell, und ich stehe nicht für alle. Genauso wie jede monogame Beziehung einzigartig ist.

Wie geht ihr beide mit dem Thema Eifersucht um?

Auf die Frage habe ich schon gewartet (lacht). Bei uns hat das auch nicht immer gleich gut funktioniert. In einer offenen Beziehung lernt man, viel miteinander zu reden, und sich auf die Bedürfnisse seiner Partnerin oder seines Partners einzustellen. Auch wir mussten lernen, wie wir dabei mit Eifersucht umgehen sollen, und welche Art von Reaktion der Wunsch nach Veränderung in uns selbst auslöst. Warum ist denn der Partner eifersüchtig? Warum fühlt man sich in bestimmten Situationen nicht gesehen? Welche Bedürfnisse werden gerade nicht befriedigt, so dass Eifersucht entsteht? Daran haben wir immer wieder gearbeitet und sehr viel miteinander geredet, geweint und gelacht. Wir haben uns sehr intensiv kennengelernt und entwickeln uns immer noch weiter. Mir hat es sehr geholfen zu verstehen, dass ich eifersüchtig sein darf, aber dass der Umgang damit entscheidend ist.

Hilft dir deine eigene Erfahrung in deiner Tätigkeit als Therapeutin?

Ich verstehe die verschiedenen Rollen, die jede Person einnimmt: Wie es ist, Eifersucht zu empfinden und von dieser überrollt zu werden, obwohl man sich doch dazu entschieden hat. Und wie schmerzhaft aber auch schön Outing-Erfahrungen sein können. All dies hilft Menschen, die sonst wenig Vorbilder in ihrem Umfeld haben, sich gesehen und angenommen zu fühlen.

Es gibt also heute mehr Vielfalt als früher?

Du lernst plötzlich Menschen in ihrer ganzen Vielfalt kennen, auch wenn Du in einer Kleinstadt lebst oder auf dem Dorf. Vielfalt ist heute sichtbarer als früher und allgegenwärtiger. Das Schubladendenken löst sich auf, oder Du kannst jetzt noch weitere Schubladen für Dich hinzufügen. Das ist doch großartig (strahlt).

Anne wünscht sich, dass Niemand aufgrund seiner sexuellen Orientierung ausgegrenzt wird.

Ist diese Erkenntnis gesellschaftlich bedeutsam für Dich?

Ja, vor allem für Menschen, die Diskriminierung in jeglicher Art und Weise erleben. Menschen, die von Rassismus betroffen sind, können in entsprechenden Foren endlich über ihre Erfahrungen reden, ebenso wie Menschen, die zum Beispiel trans sind. Sie können ihre Sichtweise darstellen und werden nicht beurteilt. Auch wenn der anonyme Hass im Internet leider auch eine eigene Gefahr darstellt. Es gibt aber die Möglichkeit, über sich zu erzählen, ohne eine fremde Sichtweise annehmen zu müssen. Menschen mit den unterschiedlichsten sexuellen Orientierungen können sich öffnen. Und durch diese Offenheit können sie dann zum Beispiel feststellen, dass sie sich in ihrer Partnerschaft gar nicht mehr wohl fühlen, weil sie eingefahrene Rollenbilder vertreten und bisher dachten, es geht nicht anders.

Und diese Personen sind es, die dann zu dir kommen?

Es kommen Personen zu mir, die bisher noch nie mit Jemandem über ihre Sorgen und Ängste gesprochen haben. Vor allem nicht so intensiv. Doch genau dafür bin ich da. Ich bin die erste Person, die absolut neutral und wertfrei mit deren Herausforderungen umgeht. Mit meinen vielfältigen Themenbereichen spreche ich viele junge Leute an. Ich finde es beeindruckend, dass auch junge Paare sich bei mir schon Unterstützung suchen. Gerade der Blick auf die eigenen Bedürfnisse schafft so viele wertvolle Erkenntnisse über sich selbst. Und so können auch kleinere Konflikte von Anfang an leichter gelöst werden.

Wie kann ich mir eine Therapiestunde bei Dir vorstellen?

Ich biete meine Sitzungen sowohl online als auch persönlich in meinem Beratungsraum in Bad Rodach an. Im Erstgespräch geht es vor allem darum, mein Gegenüber kennenzulernen und die aktuellen Herausforderungen zu verstehen. Ein großes Thema ist beispielsweise die Lustlosigkeit bei Paaren in festen Beziehungen. Nach der Anamnese gehe ich noch mal in die Tiefe und frage gezielt nach: Wann hast Du keine Lust auf Sex? Nie oder doch manchmal? Was bedeutet Erregung, Erotik, Sexualität für dich? Danach zeigen Dir die Paare oder Personen meist selbst den Weg. Gemeinsam erarbeiten wir ein oder mehrere Ziele, welche wir auch immer wieder evaluieren und im Blick behalten. Während der Beratungen erkennen wir oft auch neue Themen. Meine Aufgabe ist es also auch, den Überblick und Fokus zu behalten.

In welchem zeitlichen Abstand finden die Termine statt?

Die Termine finden ganz individuell so statt, wie es die Personen benötigen und emotional oder zeitlich schaffen. Manchmal braucht es auch große Abstände zwischen den Terminen, denn die Paare oder Einzelpersonen bekommen von mir auch Hausaufgaben gestellt, die sie umsetzen und ausprobieren dürfen. Das braucht natürlich Zeit.

Annes Praxis in Bad Rodach ist ein wahrer Wohlfühlort, an dem vielfältige Beziehungsthemen Raum finden dürfen.

Anne, Du hast viele Herausforderungen in Deinem Leben gemeistert. Hast Du bereits neue Ideen und Ziele, die Du in Zukunft umsetzen möchtest?

Ich möchte es schaffen, dass in Coburg das Angebot einer Sexual- und Paartherapie als etwas ganz Normales angesehen wird. Weiblichkeit sollte einen geschützten Raum bekommen, in dem sich Frauen austauschen können, denn wir können viel voneinander lernen. Frauen können so (endlich) erkennen, dass sie nicht alleine mit ihren Problemen und Gedanken sind.

Und ich möchte die sogenannten Randbereiche enttabuisieren. Ich möchte weiterhin ein Ort für Menschen sein, die Unterstützung brauchen, ihre Beziehung zu öffnen, oder mit den ganzen Emotionen der neuen Erfahrungen überfordert sind. Sexualität ist ein wichtiger Bestandteil unseres Lebens. Doch manchmal kann es auch zu Problemen oder Unsicherheiten kommen, die das Sexualleben belasten. Ich würde Menschen gerne helfen, sich ihren Bedürfnissen zu stellen und für sie passende Lösungen zu finden. Doch auch für Paare habe ich viele Ideen: Workshops zum Thema „Mental Load“ oder auch wie man es schafft, gerade in der Elternschaft die Paarbeziehung nicht aus den Augen zu verlieren.

Fotos: Melanie Sohn @melanie_sohn_fotografie

Du willst mehr von Annes Beratungsvielfalt erfahren? beratungsvielfalt-anneress.de
@beratungsvielfalt_anneress

schoen.frau-Steckbrief

Anne Reß, Beratungsvielfalt

Geburtstag: 20.Mai 1992

Geburtsort: Großwalbur

Wohnort: Bad Rodach

Gründung des eigenen Unternehmens: Selbständige Therapeutin seit 1. Mai 2023

Ausbildung/Beruf: Ausbildung zur staatlich anerkannten Erzieherin, Weiterbildung zur Erziehungs- und Entwicklungsberaterin, Ausbildung zur Paar- und Sexualtherapeutin (Zentrum für Paar- und Sexualtherapie; www.therapieundausbildung.de)

Was macht dich glücklich? Mich macht es glücklich, durch Coburg zu bummeln und entspannt Zeit in einem schönen Café zu verbringen. Oder im Kontrast dazu aufregende Ausflüge bei Wind und Wetter mit meiner Familie zu unternehmen.

Dies ist ein „Makeover“ – bearbeitet von Christina. Die Fragen an Anne stellte einst Iris Kroon-Lottes als freiberufliche Mitarbeiterin von schoen.frau, es wurde in seiner Erstfassung im Oktober 2023 auf schoenfrau-mag.de veröffentlicht. Weil sich seither bei Anne ein wenig verändert hat, gibt es diese leicht überarbeitete Neuauflage – erfrischend offen und inspirierend.

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